Heute gedenken wir hier auf dem Lingoblog der Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in Polen 1945. Der 27. Januar ist der offizielle Gedenktag für den Holocaust und andere Völkermorde in Dänemark. Zu diesem Anlass haben wir von Peter Bakker eine Buchbesprechung zu Zoni Weisz bekommen.
Vom Autoren Zoni Weisz hatte ich schon dreimal auf verschiedene Weise gehört, ehe ich ihn vor sechs Jahren in Amsterdam traf. Zuerst geschah das in Verbindung mit meiner Freundin, die für eine namhafte Firma in Amsterdam arbeitete, die ab und zu Bedarf an Blumenarrangements hatte. Selbstredend wird es beim besten Blumenarrangeur der Stadt, Johan Weisz, bestellt.
Das zweite Mal hörte ich von Zoni Weisz über meinen Nachbarn. Der kannte einen Mann, ich kann mich nicht erinnern, wie es dazu kam, der seine komplette Familie im Krieg verloren hatte. Folglich war er der einzige Überlebende. Mein Nachbar berichtete, dass dieser Mann Zoni genannt wurde, innerhalb seines Gewerbes aber als Johan bekannt war.
Die dritte Kunde über Zoni Weisz erreichte mich über meinen Umgangskreis von Roma und Sinti. Hier war ich Lalla Weisz begegnet, dem Präsidenten der Nationalen Niederländischen Sintivereinigung, der vom Schicksal seiner Familie und anderer Sinti im Zweiten Weltkrieg erzählte und dabei einen „Onkel Zoni“ erwähnte.
Es dauerte eine Weile, ehe ich begriff, dass es sich um eine und dieselbe Person handelte – Zoni Weisz, wie ihn seine Familie und Freunde kannten, und Johan, als der er bei den Kunden in der Blumenhandlung bekannt war.
Als der damalige niederländische Kronprinz Willem Alexander und Maxima 2002 heirateten, wurde Johan Weisz’ Name im Fernsehen herausgehoben als der Mann, der die imposante Blumendekoration arrangiert hatte. Er hatte es weit gebracht. Auch für frühere Generationen der niederländischen Regentenfamilie hatte er schon Blumendekorationen geliefert.
Zoni Weisz hat seine Lebensgeschichte 2016 zusammen mit der vom Tod seiner Angehörigen niedergeschrieben. Das ist sehr mutig für einen Sinto (im Plural Sinti), weil Sinti vorzugweise nicht über die Toten sprechen und beispielsweise auch Bilder mit verstorbenen Menschen nicht aufbewahren.
Es ist ein beeindruckendes, gut geschriebenes Buch entstanden. Mit einer spannenden Geschichte, bewegenden Ereignissen und liebevollen Beziehungen zueinander. Aber der Krieg hinterlässt seine deutliche Spur.
Zoni hat dem Tod mehrfach ein Schnippchen geschlagen. Das erste Mal, als er bei seiner Tante genau zu dem Zeitpunkt übernachtete, als die niederländische Polizei auf Befehl der Nazi-Besatzungsmacht seine Mutter, den Vater, die jüngeren Schwestern und den gerade auf die Welt gekommenen Bruder festnahmen. Die Familie wurde ins Kamp Westerbork in den nördlichen Niederlanden deportiert. Als Zonis Tante das herausgefunden hatte, flüchtete sie mit ihren Kindern und Zoni. Aber es war äußerst schwer, Verstecke zu finden, so dass auch diese Gruppe kurze Zeit später von der niederländischen Polizei festgenommen wurde. Sie kamen zum Bahnhof in Assen unweit Westebork, von wo aus sie mit dem „Zigeunertransport“ nach Auschwitz transportiert werden sollten.
Ein Sinti Mädchen im Viehwagen in 1943.
Auf dem Bahnhof stand ein Viehwagen, in dem Zonis Familie sich aufhielt. Zoni konnte den blauen Mantel seiner Schwester aus den Gittern hängen sehen und hörte die Rufe seiner Vaters und der Mutter aus dem überfüllten Waggon. Trotzdem schloss er sich ihnen nicht an. Ein Polizist sagte zu ihm, dass er flüchten solle, sobald er, der Polizist, den Hut abgenommen habe. Zoni folgte dem Rat und entging so dem Schicksal seiner Familie.
Später überlebte er ganz einfach einen deutschen Bombenangriff in der Badeanstalt von Nijmegen im Osten der Niederlande.
Das Schicksal seiner Familie verlief tragisch. Sie wurde von Westerbork mit mehreren hundert niederländischen Roma und Sinti ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Zonis Mutter und die Geschwister wurden im August 1944 in der Gaskammer ermordet. Sein Vater starb in einem anderen Lager drei Monate später. Die Zahl der im Zweiten Weltkrieg ermordeten Roma und Sinti ist unbekannt und wird auf bis zu einer halbe Million geschätzt. Nur wenigen ist dies bekannt. Nicht von ungefähr lautet der Buchtitel übersetzt „Der vergessene Holocaust“.
Zonis Bericht lässt sich wie ein spannender Roman lesen. Mit einem Bein steht Zoni in der Welt der Sinti und mit dem anderen in der Welt der Blumenkunst. Bis er sechs oder sieben Jahre alt war, reiste er mit seiner Familie auf einem Pferdewagen quer durch die Niederlande. Er beherrschte Romani, eine direkt vom Sanskrit abstammenden Sprache, die nach wir von Roma und Sinti gesprochen wird. Später wurde er zu dem Mann, den berühmte Menschen in den Niederlanden als Blumenkünstler auswählten. Er hat sich mit seiner Arbeit einen Namen gemacht.
Erst im fortgeschrittenen Alter setzte er sich zum Ziel, die Erfahrungen und das Schicksal anderen zu vermitteln, die er mit anderen Sinti und Roma teilt. Nun reist er umher und erzählt von diesem vergessenen Völkermord. Die meisten niederländischen und deutschen Sinti wurden in Auschwitz ermordet. Es ist ein Völkermord, der dem an den Juden ähnelt, aber viel weniger bekannt ist.
Das Buch von Zoni Weisz erschien 2016 in den Niederlanden und wurde 2018 ins Deutsche übersetzt. Es ist eins von den wenigen auf Roma oder Sinti zu diesem Thema, was es noch spezieller macht.
Einige Texte darin sind auf Romani. Es finden sich zwei Gedichte von Zoni Weisz über seine ermordete Familie. Bei den Texten handelt es sich zum einen um ein Lied über den Krieg, geschrieben vom deutschen Sinto-Musiker Hansche Weiss mit dem Text in Sinti Romani, auch in der niederländischen Übersetzung. Außerdem gibt es ein Lied des Sinto Titi Winterstein. Im Text des Buches werden gelegentlich Romani-Wörter verwendet. So eine kurzes Begriffsverzeichnis gehört dazu. Als durchaus revolutionerend muss gelten, das Romani hier schriftlich angewandt wird, denn viele Sinti sind dagegen, dass man in ihrer Sprache schreibt. Eine Sinti-Frau hat mir erzählt, dass es keinen Bedarf an Büchern gebe, wo man doch die Sprache seit tausend Jahren mündlich weitergegeben habe. Es werde auch gelingen, sie so in der Zukunft so weiterzuführen. Sie und andere wollen, dass es eine mündliche Sprache bleibt und von Außenstehenden nicht gelernt wird. Statistiken aus der Provinz Brabant im südlichen Teil der Niederlande zeigten vor ein paar Jahren, dass mehr als 90% der Sinti- und Romakinder die Sprache sprechen. Ein Teil des Misstrauens gegenüber anderen geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück, als Leute aus dem Nationalsozialistischen Rassebiologischen Institut Romani gelernt hatten, um sich der Sprache bei der Überführung der Roma in die Vernichtungslager zu bedienen.
Es gibt bis zu fünf Millionen Roma überall auf der Welt, die meisten davon in Europa, Amerika und Südafrika. Außer Frage steht, dass die Sprache aus Indien kommt. Die Vorväter der Roma und Sinti haben Südasien vor 1000 bis 1500 Jahren verlassen. Diese Datierung lässt sich aus Sprachdaten aus Indien und Roma-Dialekten unserer Zeit ablesen. Die ältesten Sprachquellen aus Europa stammen aus Deutschland, England und Frankreich im 16. Jahrhundert. Der indische Ursprung wurde erst 1689 klargelegt und 1782 von Johann Rüdiger in Deutschland bewiesen.
Zurück zum Buch. Der größte Teil besteht aus Zoni Weisz’ Autobiografie. Nach dem biografischen Teil gibt es eine kurze geschichtliche Darstellung der Sinti und Roma. Eine Reihe von Karten veranschaulicht die Verfolgung der Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg. In Westeuropa wurden die meisten von ihnen in Konzentrationslagern zu Tode gebracht, in Osteuropa die Mehrzahl erschossen. Aber all diese Übersichten und Zahlen sagen viel weniger über die Wirklichkeit aus als eine Lebensgeschichte. Ein solches Schicksal, ob es sich nun um den Tod, eine Kriegstragödie oder die Traumata der Überlebenden handelt, wünscht man keinem Mitmenschen. Die Vielfalt der Informationen, Eindrücke und Erlebnisse in diesem Buch über eine dunkle Periode in der Weltgeschichte ist auch in Kombination mit dem hervorragenden, klaren Schreibstil, beeindruckend. Das Buch kann nur wärmstens empfohlen werden. Leider gibt es keine dänische Version. Dafür kann man auf Deutsch und Niederländisch lesen.
Zoni Weisz. Der vergessene Holocaust: Mein Leben als Sinto, Unternehmer und Überlebender. Von Zoni Weisz und Bärbel Jänicke. dtv Verlagsgesellschaft, 2018. ISBN-13: 978-3423281645.
Zoni Weisz. De vergeten holocaust: mijn leven als Sinto, ondernemer en overlevende.Amsterdam: Uitgeverij Luitingh-Sijthoff, 2016. ISBN 978-9024569939.
Peter Bakker ist Sprachforscher an der Universität Aarhus. Sein Vater überlebte als einer von wenigen ein deutsches Arbeitslager im Zweiten Weltkrieg bei Leipzig. Bakker hat sich in der Vergangenheit mit der Romani-Sprache beschäftigt und mehrere Artikeln über diese Sprache geschrieben sowie zu Büchern darüber beigetragen.
Übersetzung: Thomas Borchert