Südschleswigdänisch: Das Gegenteil von Sprachverwirrung

Es ist drei Jahre her, dass ich mein Dissertationsprojekt hier vorgestellt habe. Jetzt ist mein Projekt erfolgreich abgeschlossen und ich kann einen Einblick geben, was Südschleswigdänisch – das Dänische der Angehörigen der dänischen Minderheit in Südschleswig – eigentlich ist. Das Ziel meiner Untersuchung ist, herauszufinden, welche – vor allem morphosyntaktischen – Strukturen für das Südschleswigdänische spezifisch sind, und inwieweit diese systematisch angewandt werden. Das Projekt nimmt hierbei Rücksicht auf sowohl die geographische Verteilung (das gesamte Gebiet Südschleswig), das Alter der Teilnehmer (alle Altersgruppen) und Geschlecht.

Mein Dissertationsprojekt untersucht dabei die südschleswigdänischen Strukturen auf Basis meiner in 2018 erhobenen Daten. In einer Fragebogenerhebung mit zwei verschiedenen Fragebögen und insgesamt 56 Fragen habe ich die dänischsprechenden Gewährspersonen aus Südschleswig darum gebeten, verschiedene Fragen zu (morpho-)syntaktischen Strukturen aus einer metasprachlichen Perspektive zu beantworten. Sie sollten beantworten, was sie von einer (anderen) dänischsprechenden Person aus Südschleswig erwarten würden. Es haben insgesamt über 100 Gewährspersonen teilgenommen (1. Erhebungsrunde: n=144, 2. Erhebungsrunde: n=100), die aus dem gesamten Gebiet Südschleswig kamen und alle Altersstufen umfassen.

Buch: Südschleswigdänisch - Eine strukturelle Bestandsaufnahme aus dialektologischer Perspektive
Südschleswigdänisch – Eine strukturelle Bestandsaufnahme aus dialektologischer Perspektive

Gleich zu Beginn kann gesagt werden: Südschleswigdänischsprechende Personen sind weder schlecht in Dänisch noch sprachverwirrt, sondern in der Lage ihren Sprachgebrauch kognitiv zu vereinfachen. Alle, die Südschleswigdänisch sprechen, sind (mindestens) zweisprachig. Alle können also Dänisch und Deutsch zu einem gewissen Grad. Meine Untersuchung bestätigt empirisch eine langjährige theoretische Vermutung, denn es scheint nicht so zu sein, dass im Gehirn zwei getrennte Systeme für Dänisch und Deutsch existieren, wie oft angenommen: Ein deutsches System, das angezapft wird, wenn man im Supermarkt in Südschleswig unterwegs ist, während das dänische System ausgeschaltet ist; ein dänischen System, dass angezapft wird, wenn man in der dänischen Schule der dänischen Minderheit im Dänischunterricht sitzt, während das deutsche System deaktiviert ist. Ganz im Gegenteil sieht sieht es so aus, als ob Personen, die sowohl Dänisch als auch Deutsch können, ein System – ein zweisprachiges, kognitiv vereinfachtes System – abspeichern. Dieses System besteht sowohl aus deutschen als auch dänischen Konstruktionen, also Form-Funktionspaaren, vor allem aber nämlich aus sprachunspezifischen Strukturen, die in beiden Sprachen gleich sind, die wir Linguist:innen im konstruktionsgrammatischen Bereich auch Diakonstruktionen nennen (mehr zu Konstruktionsgrammatik hier, hier oder hier, und konkret zu Diasystematischer Konstruktionsgrammatik hier).

Südschleswigdänisch als Verkehrsnetz

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Radweg

Die Art und Weise in der Personen aus Südschleswig kommunizieren kann gleichgesetzt werden mit dem Verkehrsnetz. Das ist vielleicht eine bizarre Metapher, aber ich glaube, sie funktioniert: In jeder Stadt gibt es ein Verkehrsnetz, also ein Netzwerk aus Straßen, Wegen, Autobahnen, Velorouten, Fußgängerwegen, etc.  – und das gibt es auch, ungeachtet dessen welche Wege man als Individuum benutzt. Das System ist da. In seiner Gesamtheit! Und jetzt kommt es auf die Situation an, d.h. die Funktion die eine Person im selben Verkehrsnetz übernimmt. Wenn eine Person sich dazu entschließt das Fahrrad zu nehmen, dann weiß diese Person auch, welche Wege im Verkehrsnetz die effektivsten sind, um schnellstmöglich und ohne große Hindernisse ans Ziel zu kommen. Also nimmst du diesen Weg! Das Gleiche gilt für die Situation, in der die Person wählt, zu Fuß zu gehen, denn hier weiß die Person wieder, welche Wege geeignet sind, um schnellstmöglich ans Ziel zu gelangen. Das Wichtigste ist aber, dass in beiden Situation höchstwahrscheinlich eine Menge Wege dieselben sein werden, dass es sich hierbei also um Wege handelt, die sowohl zu Fuß als auch mit dem Rad zu bewältigen sind. Andere Wege wiederum sind ausschließlich mit dem Rad befahrbar (z.B. die neue Veloroute) oder nur zu Fuß passierbar (z.B. der kleine Weg rund um den See).

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Trampelpfad um den See

Und es gibt Wege, die veraltet sind, nicht mehr benutzt werden, da sie weniger effektiv sind, weil andere, weitaus praktischere Routen im Netz gebaut wurden, aber die alten Wege sind noch so lange da, bis sie abgerissen werden und Platz machen für neue, weitaus effektivere Wege. Und nicht selten passiert es, dass vorhandene, restriktiv gebrauchte Wege umstrukturiert werden, so dass beispielsweise ein Radweg auch zu Fuß benutzt werden darf, oder eine Fußgängerzone auch auf dem Rad passiert werden darf. Das Ziel kann so effektiver und schneller erreicht werden.

Personen, die Südschleswigdänisch sprechen, sind in ihrem Verkehrsnetz sowohl zu Fuß als auch auf dem Rad unterwegs. Sie können sich aussuchen, ob sie zu Fuß gehen oder das Rad nehmen, abhängig davon in welcher Situation sie sich befinden!

Im übertragenen Sinne bedeutet dass, dass diese Personen ein Netzwerk (Verkehrsnetz) mit sprachunspezifischen Konstruktionen, d.h. Diakonstruktionen (also Wege, die von mehreren Verkehrsteilnehmenden benutzt werden können) und sprachspezifischen Konstruktionen, d.h. Idiokonstruktionen (Wege, die nur von einer Art Verkehrsteilnehmenden verwendet werden können, wie beispielsweise die Veloroute oder der Fußgängerweg) abgespeichert haben. Wenn jetzt alle südschleswigdänsichsprechenden Personen sowohl Deutsch als auch Dänisch können (also sowohl zu Fuß gehen als auch Rad fahren), verwenden sie meistens jene Konstruktionen, die in beiden Sprachen gleich sind (also Wege, die sowohl von Fußgängern als auch auf dem Rad benutzt werden können). Es besteht simpel gesagt kein Grund Umwege zu nehmen, sondern den schnellsten und effektivsten Weg, d.h. in einem Kontext, in dem alle beide Sprachen können, gibt es keinen Grund einen Umweg über den Fußgängerweg zu machen, der 5 km länger ist, wenn doch alle kurz auch auf dem Radweg Rad fahren können (das wäre im übertragenen Sinne ein Beispiel für Code-Switching). Und andere Male wiederum ergibt es keinen Sinn, dass zwei Personen auf einem Fußgängerweg ihr Rad schieben, wenn doch alle ihr funktionierendes Rad dabei haben und der Weg den Begebenheiten entspricht, dass sie losfahren können, damit sie schneller ans Ziel gelangen (das wäre im übertragenen Sinne dann ein Beispiel für innovative, südschleswigdänische Sprachformen).

Präferenz für sprachunspezifische Konstruktionen

Meine Daten zeigen, dass Südschleswigdänisch weder individuelle Fehler, einfach nur Lerner- oder Kindersprache noch Sprachverwirrung ist, sondern weitaus mehr als bloß das. Auf einer theoretischen Ebene zeigen meine Daten, dass es simpel ausgedrückt einfach nur die Präferenz für sprachunspezifische Konstruktionen ist. Um noch genauer zu sein:

Stellen Sie sich eine Person vor, die einer anderen Person eine Sache gibt, z.B. Peter gibt dem Kassierer die Münze – auf Dänisch: Peter giver ekspedienten mønten – (denn in Südschleswig ist es noch weitaus üblicher mit Bargeld zu bezahlen als in Dänemark). Hier wird in beiden Sprachen dieselbe Wortstellung verwendet (nämlich wer gibt wem was, d.h. das Agens gibt dem Rezipienten das Patiens). Der einzige Unterschied besteht darin, dass im Deutschen die verschiedenen Konstituenten mit Kasus verwendet werden (Peter im Nominativ, dem Kassierer im Dativ und die Münze im Akkusativ). Aber um diese Wortstellung kognitiv zu verarbeiten, muss eine südschleswigdänischsprechende Person nur eine einzige Struktur abgespeichert haben: nämlich [Agens give/geben Rezipient Patiens]. Die im Standarddänischen weitaus üblichere Variante mit einer Präposition, also Peter giver mønten til ekspedienten, wird hingegen als typisch dänische Idiokonstruktion abgespeichert.

Wird der Gegenstand als Pronomen (also anstelle von die Münze das Pronomen sie) realisiert, sieht das Ganze anders aus. Auf Dänisch bleibt die Reihenfolge wie bei dem ersten Beispiel, nämlich Peter giver ekspedienten den; auf Deutsch heißt es hingegen Peter gibt sie dem Kassierer – die Wortstellung ist andersherum, aber tatsächlich dieselbe wie bei der präpositionalen dänischen Form Peter giver den til ekspedienten. Diese Konstruktion kann also abstrakt als Reihenfolge abgespeichert werden: [Agens – give/geben – Patiens – Rezipient].

Meine Daten zeigen nun, dass südschleswigdänischsprechende Personen nicht einfach die deutsche Syntax übernehmen, wie häufig angenommen, sondern die Strukturen bevorzugen, die es bereits in beiden Sprachen gibt. Beim ersten Beispiel bevorzugen meine Gewährspersonen beispielsweise die (im Standarddänischen im Gegensatz zur präpositionalen Variante weniger häufig verwendete)

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Fußgängerweg auch für Radfahrende

Variante Peter giver ekspedienten mønten, die also nicht strukturell vom Standarddänischen abweicht, sondern rein quantitativ divergiert, da sie in meinen Daten häufiger produziert wird (44,4 %, n=64) als die präpositionale Konstruktion (20,1 %, n=29). Beim zweiten Beispiel hingegen wird die präpositionale Variante bevorzugt produziert (69,4 %, n=100) – als Realisierung der in beiden Sprachen abgespeicherten Reihenfolge der Konstituenten. Keine meiner Gewährspersonen produziert die im Standarddänischen korrekte Variante Peter giver ekspedienten den. Darüber hinaus bietet diese Situation noch Raum für Innovationen: 5,6 % (n=8) meiner Gewährspersonen produzieren die Innovation Peter giver den ekspedienten, was als innovative Realisierung der Reihenfolgenkonstruktion [Agens – give/geben – Patiens – Rezipient] interpretiert werden kann und in Kontexten, in denen beide Gesprächsteilnehmenden zweisprachig sind, kein Kommunikationshindernis darstellt. Diese 5,6 % nehmen also das Rad auf dem Fußgängerweg, um effektiver zu sein. Folgen noch weitere Personen, bietet es die Möglichkeit, dass dieser Fußgängerweg bald ein Weg für alle Verkehrsteilnehmenden wird – dass diese sprachliche Innovation also etabliert wird.

Ein breites Spektrum

Die Präferenz für Diakonstruktionen kann bei fast allen meiner Variablen festgestellt werden. Betrachtet man allerdings nur die innovativen Formen, so schwanken die Ergebnisse sehr. Es scheinen andere Faktoren im Spiel zu sein, die einen Einfluss darauf haben, wie viele Gewährspersonen diese innovativen Strukturen verwenden und ob man diese als etabliert bezeichnen kann. Ein Beispiel hierfür könne die Wahl der Tempusform bei abgeschlossenen Handlungen sein. Hier sind es über die Hälfte meiner Gewährspersonen, die einen Satz im Perfekt bilden können, d.h. I går har jeg været til svømning, anstelle des im Dänischen geforderten Präteritum, also I går var jeg til svømning. Diese Innovation scheint im Südschleswigdänischen also recht etabliert zu sein. Anders sieht es hingegen bei der Realisierung von Verwandtschaftsbeziehungen aus. Die oftmals im öffentlichen Diskurs stereotypisch für das Südschleswigdänische genannte Variante mit einer Präposition,  beispielsweise moren fra pigen, anstelle der standarddänischen Variante pigens mor oder moren til pigen, wird nur in Ausnahmefällen gewählt.

Soziolinguistische Ergebnisse

Mithilfe sprecherbiographischer Daten konnte ich herausfinden, dass zwei meiner vier untersuchten außersprachlichen Faktoren im Zusammenhang mit der Wahl der südschleswigdänischen Variante stehen können.

Als erstes habe ich untersucht, ob das Geschlecht der Gewährspersonen im statistisch signifikanten Zusammenhang zur Wahl der sprachlichen Variante steht. In traditionellen dialektologischen Studien ist es üblich, das Geschlecht der Gewährspersonen zu erheben und entweder männliche oder weibliche Gewährspersonen zu untersuchen. Meine Daten zeigen jedoch, dass das Geschlecht definitiv keinen Einfluss auf die Wahl südschleswigdänischer Varianten hat.

Was ich jedoch erwartet hatte, war, dass der Wohnort einen Einfluss auf den südschleswigdänischen Sprachgebrauch hat, also dass Gewährspersonen, die näher an der Grenze oder dem Zentrum der dänischen Minderheit (Flensburg) wohnen, weniger häufig südschleswigdänische Varianten wählen. Dies ist allerdings nicht der Fall, denn es zeigt sich in meinen Daten, dass der Wohnort generell keinen Einfluss auf die Wahl einer südschleswigdänischen Variante hat! Meine Gewährspersonen können aus ganz Südschleswig kommen, St. Peter-Ording, Sylt, Flensburg oder Kiel – es sagt nichts darüber aus, wie südschleswigdänisch sie antworten!

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Beispiel der geographischen Verteilung der Ergebnisse eines Items

Was jedoch im Zusammenhang steht ist das Alter und die Wahl einer südschleswigdänischen Variante, denn je jünger meine Gewährspersonen sind, desto häufiger erwarten sie eine südschleswigdänische Variante; je älter meine Gewährspersonen sind, desto häufiger antworten sie standarddänisch. Das lässt Rückschlüsse darauf zu, dass ältere Gewährspersonen auf jeden Fall Standarddänisch produzieren können; und dass jüngere Gewährspersonen häufiger Südschleswigdänisch erwarten. Das kann allerdings verschieden interpretiert werden und bedarf einer weiterführenden Studie, denn zum einen kann es bedeuten, dass jüngere Gewährspersonen tatsächlich selber häufiger Südschleswigdänisch sprechen, zum anderen kann es bedeuten, dass sie es einfach nur häufiger erwarten, da sie zeitlich noch näher im Schulsystem der dänischen Minderheit sind, in dem sie kontinuierlich mit den sprachlichen Besonderheiten des Südschleswigdänischen konfrontiert waren und dementsprechend genau wissen, welche Strukturen typisch Südschleswigdänisch und welche Strukturen „korrektes“ Standarddänisch sind.

Darüber hinaus gibt es einen Zusammenhang zwischen der Wahl einer südschleswigdänischen Variante und wie viel Dänisch im Alltag verwendet und konsumiert wird, d.h. wie aktiv die Gewährspersonen in den dänischen Institutionen in Südschleswig sind, ob sie mit Familienmitgliedern oder auf der Arbeit Dänisch sprechen, ob sie Mitglied im Verein der dänischen Minderheit sind und ob sie das dänische Schulsystem in Südschleswig durchlaufen haben. Und hier zeigen meine Daten, dass je stärker der Einfluss des Dänischen ist, desto weniger erwarten sie südschleswigdänische Strukturen.

Aber was ist Südschleswigdänisch denn nun?

Ja, das ist und bleibt eine gute Frage, denn selbst wenn alle meine Variablen bis ins kleinste Detail beschrieben werden können, zeigen meine Daten, dass Südschleswigdänisch ein breites Spektrum von sprachlichen Formen ist. Es ist fast unmöglich zu sagen, welche Strukturen etabliert sind und welche als individueller Sprachgebrauch interpretiert werden können. Die Sprachgruppe ist schon immer sehr heterogen, und das spiegelt sich auch schon immer in ihrem Sprachgebrauch wider.

Was jedoch gesagt werden kann ist, dass alle Personen Sprache so verwenden, dass die kognitive Last so minimal wie möglich bleibt – sie bevorzugen Konstruktionen, die in beiden Sprachen gleich sind. In manchen Situationen wechseln sie die Sprachen, in anderen wiederum verwenden sie innovative Formen, die aber keinesfalls willkürlich, oder „einfach nur Deutsch“, sind, sondern in allen Fällen (zumindest schematisch, manchmal sogar konkret) in beiden Sprachen vorhanden sind. Alle südschleswigdänischsprechenden Personen können eben beides, zu Fuß gehen und Rad fahren, um ihr Ziel mit der geringsten Anstrengung zu erreichen. Sie bevorzugen demnach Wege, die bereits für beide Möglichkeiten existieren. Aber anstelle dass sie ihre Räder nebeneinander herschieben, hüpfen sie gelegentlich auch auf einem Fußgängerweg aufs Rad, um eben effektiver zu sein.

 

Sabrina Goll hat im Juni 2023 ihr Promotionsprojekt zum Südschleswigdänischen erfolgreich abgeschlossen und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Frisistik, Skandinavistik und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo sie seit 2020 im Projekt GrammArNord arbeitet.

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